Hubert Fichte skizzierte zu Beginn seines 1968 erschienenen Romans Die Palette den Weg vom Gänsemarkt zu seinem Geburtsort Hamburg-Lokstedt, den er früh verlassen hatte, um nach Frankreich zu gehen. Er bzw. sein autobiografisches Ego, Jäcki, fand nach seiner Rückkehr aus Frankreich eine neue Heimat an der Elbchaussee. Als Gammler zwischen Mercedessen und goldenen Wasserhähnen, notierte Fichte.
Auf dem Weg von der ABC-Straße, der Heimat der Palette, nach Hamburg-Nienstedten finden sich mehrere von Fichte beschriebene Stationen, die mit den Charakteren des Romans verwoben sind: die Untersuchungshaftanstalt Hamburg, der Hochbunker am Heiligengeistfeld, der Kiez mit seinen schwul-queeren Bars und Clubs und der jüdische Friedhof in Altona.
Reimar Renaissancefürstchen
Mit dem Jäcki die Nächte in Clubs und Bars durchgefeiert und den er zu sich nach Hause mitgenommen hatte. Dessen Klarnamen er aber erst erfuhr, als dieser ihm aus der Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis schrieb. In seinen Briefen aus der Untersuchungshaft bat Reimar Renaissancefürstchen (genannt im Roman: Reinhold Behrends) Jäcki um Zigaretten und Lebensmittel. Doch: Jäcki bringt keine Zigaretten, wo Rudolf Augstein saß und wo die Gefangenen in der Glocke Dresche kriegen. Er mied den Ort, vor dem er Bammel hatte. Den Bau, der den Nazis als eine zentrale Hinrichtungsstätte diente, und der heute noch den gleichen Eindruck wie vor 50 Jahren vermittelt.
Jäcki sah Reimar Renaissancefürstchen erst nach Ende seiner Haftstraße wieder. Das Wiedersehen fand ohne große Sentimentalitäten in der Palette statt: ein Hamburger Palettennovemberwiedersehen ohne Berührungen.
Der Bunkerer
Jäcki trifft Kapuzinerwilli und Bernhardt. Zum Bunkerer! In den Bunker. Der Hochbunker am Heiligengeistfeld ragt unweit der Untersuchungshaftanstalt empor. Ein Ort, der heute Kreativen, Musikakademien, Radiosendern und Musik-Clubs eine Heimat bietet, und über dessen Aufstockung und Nutzung als Hotel und Eventhalle heute heftig gestritten wird. Der Hochbunker diente zu der Zeit der Palette den Hamburgern noch als Wohnraum.
Dort wohnte unter dem Dach auch der Bunkerer, ein Protagonist aus Die Palette. Jäcki wurde von seinen Bekannten zu einer „Jazz-Session“ zum Bunkerer mitgenommen. Der Kontakt zwischen beiden blieb aber sporadisch. Nicht zuletzt, weil der Bunkerer ein misogyner Waffennarr war.
Die verschwundene Welt
Wie die Palette existieren die meisten in dem Roman beschriebenen Clubs und Bars längst nicht mehr. Zum Beispiel die Roxy Bar, in der Nähe der Holstenstraße. Dort tanzte der Travestiekünstler Cartacalo/la und dämonisierte die Männer. Cartacalo/la sieht von vorne aus wie eine Hugo-Wolffsängerin mit aschblonden Dauerwellen und von hinten wie die Giraffe von Dali, heißt Otton Bröckelmann, wohnt Maiglöckchenkolonie Lokstedt …
Als Gegenpol zu den schwul-queeren Clubs auf St. Pauli führte Fichte bürgerliche Tanzlokale und Seemannskneipen auf, wie den Rattenkeller, die Washington-Bar, das Sahara oder das Cafe Keese.
Vom Letzteren sind nur noch der unübersehbare Namenszug auf dem Dach und das charakteristische Emblem mit der französischen Aufschrift „honi suit qui mal y pense“ (Ein Schelm, der Böses dabei denkt) übriggeblieben. Seit der Schließung des Lokals, Ende der 1990er, wurde das Gebäude verschiedenartig genutzt. Heute beherbergt das Haus an der Reeperbahn eine große Restaurant-Kette. Einzig die Washington Bar gibt es noch und lockt mit abgerocktem Charme ein junges Publikum an. In den Anfangsjahren der Washington Bar tranken dort Seeleute ihr Bier und angeblich wurde Freddy Quinn dort entdeckt.
Vom Hafenrand zu den Elbvororten
Von der Reeperbahn sind es nur wenige hundert Meter bis zum jüdischen Friedhof in der Königstraße. Dass es einen Judenfriedhof in Altona gibt, ist plötzlich wieder neu für Jäcki (…), den Halbjuden, der eben zurückkommt aus Pierrevert, heißt es zu Beginn des Romans. Einer der wenigen Verweise Fichtes in Die Palette auf seine Herkunft als unehelich geborenes Kind eines jüdischen Vaters.
Fichte war 1962 mit seiner Partnerin Leonore Mau (im Roman Irma genannt) zurückgekehrt nach Hamburg, wo er im Elbvorort Nienstedten eine Unterkunft in einem heruntergekommenen Spätjugendstilaltersheim, das abgerissen werden soll, fand.
Der Vermieter ließ nicht heizen und es schimmelte in dem Haus. Aber es ist die Elbchaussee. Hamburgs erste Adresse. Hans Henny Jahnns Adresse – das war wichtig, um eine Rückkehr zu markieren, schreiben Bandel, Hempel und Janßen.
Die Zitate entstammen:
Hubert Fichte, Die Palette, Rowohlt-Verlag, Reinbek, 2. Auflage, 1968.
Jan Frederik Bandel, Lasse Ole Hempel, Theo Janßen: Palette revisited. Eine Kneipe und ein Roman, Nautilus, Hamburg, 2005.
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