Wurde die Currywurst im Hamburg der 1940er Jahre erfunden? Uwe Timm spinnt um diese Idee seine 1993 erschienene Novelle. Die meisten, nein, fast alle reklamieren dafür das Berlin der späten fünfziger Jahre. Ich brachte dann immer Hamburg, Frau Brücker und ein früheres Datum ins Gespräch.
Die Rahmenhandlung spielt Ende der 1980er Jahre in Hamburg, als der Ich-Erzähler auf die Suche geht nach der vermeintlichen Entdeckerin der Currywurst, Lena Brücker, die im Haus seiner Tante gewohnt und jahrzehntelang eine Imbissbude auf dem Großneumarkt betrieben hat. Timms Erzähler findet Lena Brücker schließlich in einem Harburger Altenheim, wo er sie in den kommenden Wochen besucht, um mehr über die Entdeckung der Currywurst zu erfahren. Doch die Geschichte beginnt weit früher, mit einer Liebesromanze in den letzten Kriegstagen.
Noch einmal jung fühlen, nicht jung sterben
Die von ihrem Mann getrennt lebende Lena Brücker lernt Ende April 1945 bei einer Kinoaufführung den deutlich jüngeren Bootsmann Hermann Bremer kennen. Der Marinesoldat Bremer wurde zu einer Panzerjagd-Einheit abkommandiert, zu der er am nächsten Tag stoßen soll, um im aussichtslos gewordenen Kampf gegen die britischen Streitkämpfe Hamburg zu verteidigen. Die beiden verbringen auf der Flucht vor britischen Bombern und dem Hamburger Regen die Nacht in Brückers Wohnung in der Brüderstraße. Das Viertel war während des Krieges durch Bomben stark zerstört worden. Nur einige Straßen blieben verschont, und in einer, der Brüderstraße, wohnte eine Tante von mir. Die Brüderstraße ist durch ein Ensemble von Altenbauten geprägt. Die eng beieinanderstehenden Gebäude, die sanfte Neigung und die sich langsam ziehende Kurve verleihen der Straße ein besonderes Flair.
Bremer entscheidet am nächsten Morgen, sich in Brückers Wohnung bis zum absehbaren Kriegsende zu verstecken. Komm, sagte sie […] und streckte ihm die Hand entgegen. Bremer zog sich Hose, Hemd und Unterhemd aus, ergriff die hingestreckte Hand und stieg in das schaukelnde Bett. So wurde er, Hermann Bremer, ein Bootsmann, fahnenflüchtig. Brücker erlebt in den kommenden drei Wochen eine intensive Liebesbeziehung mit dem neunzehn Jahre jüngeren Bremer. So einfach war das. Man liegt zusammen und weiß, wenn der aufsteht und weggeht, dann gibt’s nur noch die fünfzig-, sechzigjährigen Männer. Sie will sich noch einmal jung fühlen, er will nicht jung sterben.
Bremer verschweigt ihr Frau und Kind in Braunschweig, und Brücker lässt ihn in Unkenntnis darüber, dass Hamburg kapituliert hat und die englischen Truppen kampflos in die Stadt eingezogen sind. Auf der Michaelisbrücke sieht Brücker den ersten englischen Soldaten, auf einem Panzerwagen sitzend und rauchend. Doch Bremer bleibt noch drei Wochen nach der Kapitulation Hamburgs in Brückers Wohnung.
Den Krieg soll man nicht verlängern, das ist unanständig und unmoralisch. Er war desertiert, und sie hatte ihm dabei geholfen. Sie hatte verhindert, dass er andere tötete, dass er möglicherweise getötet wurde. Als Brücker das Kriegsende vor Bremer nicht länger geheim halten kann, verlässt er sie nach einem Streit wort- und grußlos.
Süßlichscharfe Anarchie zwischen Trümmern
Lena Brücker, die bei der Lebensmittelbehörde arbeitet, versteht es trotz zunehmender Lebensmittelknappheit vor und nach Kriegsende aus dem Wenigen eine Mahlzeit zu bereiten. Abends kocht sie für Bremer, der ihr bei einer der gemeinsamen Mahlzeiten von einer Fahrt mit der Handelsmarine nach Indien berichtet, bei der er erstmals Curry gekostet hat – einem in Deutschland unbekannten Gewürz. Als Brücker 1947 ihre Anstellung bei der Lebensmittelbehörde verliert, beschließt sie, einen Imbissstand auf dem Großneumarkt zu betreiben. Die dazu nötigen Lebensmittel will sie durch einen Ringtausch unter anderem mit einem englischen Intendanturrat erwerben. Statt des versprochenen Pflanzenöls erhält sie von diesem Currypowder. Sie muss an Bremer denken, der ihr erzählt hat, dass Curry die Schwermütigen rette, und entscheidet, auf diesen Tausch einzugehen. Bei ihrer Rückkehr stolpert sie im Hausflur mit dem Curry und dem ebenfalls getauschten Ketchup. Diesen Currymatsch brät sie in eine Pfanne voller Kalbsbratwürste an und isst ihre erste Currywurst, die nicht dröge, sondern fruchtigfeucht und fremd schmeckt. So entdeckt sie durch Zufall die Currywurst – diesen süßlichscharfen Geschmack Anarchie. Damit begann der Siegeszug der Currywurst, ging aus vom Großneumarkt, kam zu einer Bude auf der Reeperbahn, dann nach St. Georg, dann und erst dann mit der Lisa nach Berlin.
Großneumarkt: zwischen Gegenwart und Gängeviertel
Das im historischen Gängeviertel gelegene Quartier um den Großneumarkt ist längst nicht mehr die windige und schmutzige Ecke im Schatten der Michaeliskirche, in der früher Hafen- und Werftarbeiter wohnten. Timm lässt seinen Erzähler berichten: Inzwischen waren die Häuser renoviert und die Wohnungen – die City ist nicht weit – luxuriös ausgestattet worden. In den früheren Milch-, Kurzwaren- und Kolonialwarenläden hatten sich Boutiquen, Coiffeurs und Kunstgalerien eingerichtet. Oder Jazzclubs wie der Cotton Club, der seit 1971 sein Domizil im Alten Steinweg hat.
An dieser Straße, die vom Großneumarkt auf die Düsternstraße und den Bleichenfleet führt, liest man Hamburgs Geschichte in der Architektur ab: Da reiht sich Jugendstilhaus an ein 1761 errichtetes Mietshaus des ursprünglichen Gängeviertels, gleich nebenan stehen in den 1970er und 1980er Jahren errichtete Wohnhäuser und am Ende des Alten Steinwegs gibt ein Büro- und Verwaltungsgebäude den Blick frei auf den Bleichenfleet.
Die Zitate entstammen:
Uwe Timm: Die Entdeckung der Currywurst, 9. Auflage, 2004, Deutscher Taschenbuch Verlag
Eine Antwort zu “Die Entdeckung der Currywurst”
Die Currywurst ist wirklich mein absolutes Lieblingsgericht. Mindestens einmal die Woche gehe ich in ein Lokal in meiner Nähe und genieße eine. Das Buch über die Entdeckung der Currywurst wollte ich auch mal lesen. Erstaunlich, dass so ein Streit darüber herrscht, wann diese wirklich entdeckt wurde.