Das Geschäftsjahr 1968/69

Bernd Cailloux räumt in seinem Roman Das Geschäftsjahr 1968/69 mit der Larmoyanz und Verklärung des Jahres 1968 auf. Er schildert darin die Widersprüche des vermeintlichen Aufbruchs in eine neue Gesellschaft, die nicht mehr von ökonomischer Ausbeutung und Profitgier beherrscht werden sollte.

Caillouxs Ich-Erzähler blickt aus den 1990er Jahren zurück auf die Bundesrepublik der Jahre 1964 bis 1969. Dieser gründet mit seinem Freund Büdinger Mitte der 1960er in Düsseldorf die sogenannte Muße-Gesellschaft. Die Aussteigerfirma stellt die ersten Stroboskop-Blitze her, die wie einst Prometheus den Menschen das Licht brachte für den Anfang der Kultur, so bringen wir den Blitz für den Beginn der Gegenkultur. Die Stroboskop-Lichter für die Clubs und Festival sollten die Verhältnisse in jeder Hinsicht zum Tanzen bringen. Dass dies eine Illusion blieb, erzählt Cailloux lakonisch, realistisch und unsentimental.

Er verhandelt in der Geschichte dieser Hippiefirma die gesellschaftlichen Konflikte und Widersprüche jener Zeit. Während sein Alter Ego den Ausbruch aus der Industrie- und Arbeitsgesellschaft anstrebt und dem revolutionären Rausch inklusive Drogenrausch erliegt, nutzt Büdinger die revolutionär-künstlerische Fassade der Muße-Gesellschaft für seine Zwecke. Der eine geht durch den kalten Entzug, der andere tritt den Gang durch die Institutionen an – und wird Immobilienmillionär.

Aber der Reihe nach: Caillouxs Ich-Erzähler verlässt die norddeutsche Provinz und seine damalige Freundin für seinen Freund Büdinger und die gemeinsame Idee einer Hippiefirma – und zieht nach Düsseldorf, wo ihre Unternehmung an Fahrt aufnimmt. In Hamburg, auf der von reichlich altem Neon durchwirkten Großen Freiheit, geht der Stern der Muße-Gesellschaft auf. Die Muße-Gesellschaft installiert zur Eröffnung des im Roman titulierten Clubs „Golem“ die erste Stroboskop-Blitz-Anlage, die für Furore sorgt. Es war ein neues Erleben, ein phantastischer Effekt, ein paar Sternminuten lang blähte sich eine Lichtblase voller Flirren und Flackern im Raum auf. Anhand der beschriebenen Wandmalerei lässt sich der von Cailloux beschriebene Musikclub als das Gruenspan identifizieren, welches 1968 ebenfalls seine Pforten öffnete. Der Hamburger Club auf der Großen Freiheit ist für seine von den Pop Art-Künstlern Werner Nöfer und Dieter Glasmacher entworfene Wandmalerei international bekannt.

Musikclub Gruenspan: Große Freiheit

Während Caillouxs Protagonist einer nicht profitorientierten Gesellschaft das Wort redet, bootet ihn sein Kompagnon schrittweise aus: Aus der Aussteigerfirma wird eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Das Zerwürfnis der beiden Freunde vollzieht sich auch räumlich. Eine Zweigstelle wird nach Hamburg verlegt. Caillouxs Ich-Erzähler wohnt fortan in einem der unverschämt strahlenden, weißen Patrizierhäuser in der Isestraße in Hamburg-Harvestehude.

Patrizierhäuser: Isestraße

Nur wenige Autominuten entfernt, nahe des Mittelweges, liegt das neue Büro der Muße-Gesellschaft, in einem kantigen Fünfzigerjahre-Verwaltungskasten einer Betriebskrankenkasse. Das Viertel ließ sich schnell begreifen. Offenbar hatte hier das Popzeitalter als eine neue, wachsende Branche bereits begonnen, in Straßen mit seltsam widersprüchlichen Namen wie Mittelweg oder Milchstraße. Womöglich paßte die Muße-Gesellschaft besser hierher, als ich wahrhaben wollte – in diesen Betriebskrankenkassen-Kasten paßte sie nicht.

Bürogebäude: Alsterterrasse, Ecke Mittelweg.

Das Geschäft mit dem Licht floriert. Es sind nicht mehr nur die alternativen Popclubs oder Musikfestivals, die die Dienste der Muße-Gesellschaft in Anspruch nehmen, Lichtinstallationen für Firmenmessen oder Illuminationen für Boutiqueeröffnungen stehen ebenfalls auf dem Auftragszettel.

Am Rande beschriebene Kneipenabende führen nach Alsterdorf in die Tenne, danach ins Safari, ein arm dekoriertes, aber leidenschaftlich belaufenes Lokal auf der Reeperbahn. Beide Clubs überdauerten die Aufbruchjahre Ende der 1960er. Die Tenne existiert heute zwar nicht mehr, das Safari lebt seit seiner Schließung in den 2000er fort als Safari-Bierdorf.

Safari Bierdorf: Große Freiheit

Am Ende des Romans kommt es in den Hamburger Büroräumen der Muße-Gesellschaft zum Showdown. Büdinger und seine Kumpanen zwingen Caillouxs Alter Ego, auf seine Beteiligung an der Unternehmung zu verzichten. Nicht freiwillig, aber fast ohnmächtig von der durch das Heroin hervorgerufenen Hepatitiserkrankung willigt dieser ein – und verbringt die darauffolgenden Monate in Quarantäne im Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin.

Tropeninstitut: Bernhard-Nocht-Straße

Die Zitate entstammen: Bernd Cailloux, Das Geschäftsjahr 1968/69, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 2005.

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