Hamburger Hochbahn

Ulf Erdmann Zieglers Debütroman ist ein Bildungs- und Zeitroman, der die Entwicklung, das Suchen und Finden in den großen Zeitenwenden am Ende des letzten und Anfang dieses Jahrhunderts behandelt. Erdmann Ziegler beleuchtet das Leben seines Protagonisten Thomas Schwarz vom Aufwachsen in der niedersächsischen Provinz über die Zeit nach dem Mauerfall bis zu den Monaten nach den Anschlägen des 11. September 2001. Der Autor siedelt den Roman in Deutschland und in den USA an. Mit dem Wechsel der Zeit- und Ortsebene wechselt Erdmann Ziegler auch die Erzählperspektive des Romans: Die in Deutschland angesiedelten Kapitel sind in der Ich-Perspektive von Thomas beschrieben; die in den USA spielenden Kapitel sind in der personalen Erzählperspektive gehalten. Als wolle Erdmann Ziegler die räumliche Distanz durch die erzählerische Distanz zu seinem Protagonisten erfahrbar machen.

Von Niedersachsens Provinz nach Hamburg

Thomas wächst als Sohn eines Richters und einer Hausfrau in Lüneburg auf: gut behütet in bürgerlichen Kreisen. Dort und in Braunschweig der 1980er Jahre entstehen die Bindungen und Freundschaften, die Thomas privat und beruflich die kommenden Jahrzehnte tragen sollen. „Die Kleinstadtflüchtlinge suchen Ehren, die Daheimgebliebenen schlagen Wurzeln.“

In der Zeit nach dem Mauerfall arbeitet Thomas in Hamburg, wo er nach seinem Architekturstudium hingezogen ist. Als „kleiner, fleißiger Architekt im architektonischen Mittelstand“ erlebt er die Umbrüche und Herausforderungen, die sich mit dem Mauerfall für Hamburg stellen. Hamburg ist nicht mehr am Rand, sondern mittendrin in Europa. Es werden neue städtebauliche Entwürfe und Pläne für die Wirtschaft, das Arbeiten und Leben in Hamburg gesucht. Ein Sujet des Romans ist die Ausschreibung bzw. Vergabe des Entwurfs für die neue Kunsthalle (Galerie der Gegenwart) am Ferdinandstor, welche 1997 fertiggestellt wird. Den Wettbewerb gewinnt der Architekt Niehuus, für den Thomas eine Schrift über den Neubau der Kunsthalle verfassen soll. „Wir sahen hinüber zum Kunstverein, dessen Abriss begonnen hatte, um Niehuus‘ Kunstmuseum Platz zu machen.“ Geplant wurde die Galerie der Gegenwart von dem deutschen Architekten Oswald Mathias Ungers.

Bei der Siegerpräsentation des Entwurfes der neuen Kunsthalle begegnet Thomas Elise Katz, von der er sofort fasziniert ist. Elise arbeitet mit ihrem Künstlerfreund in einem Atelier am Barmbeker Güterbahnhof in der Hellbrookstraße, von wo aus sie „auf den gewaltigen Zentralbau der Hamburger Hochbahn mit seiner orangeroten Fassade“ sehen können. Das Gebäude der Hamburger Hochbahn in Barmbek ist dann auch titelgebend.

Thomas und Elise lernen sich in den kommenden Wochen kennen und lieben – nachdem sie ihrem bisherigen Künstlerfreund, der zu dieser Zeit auf Kampnagel im Hamburger Stadtteil Winterhude eine Videoinstallation präsentiert, den Laufpass gegeben hat.

Nach einem Restaurantbesuch begleitet Thomas Elise erstmals in deren Wohnung in der Maria-Louisen-Straße, Ecke Dorotheenstraße. In den Vorgarten der Bürgervilla war eine italienische Bar gesetzt worden. Die Bar gibt es nicht mehr, dort befindet sich heute das Sushi-Restaurant Misaki.

Elise – geboren in Hamburg-Niendorf, wo ihre Eltern ein Bestattungsunternehmen haben – kehrt wiederholt in ihrem Elternhaus am Niendorfer Markt ein. Das von Erdmann Ziegler beschriebene Gebäude existiert so nicht. Doch rund um den Niendorfer Markt gibt es zwei Bestattungsinstitute, unter anderem das alteingessene Institut von Erwin Jürs.

Ein weiterer Schauplatz des Romans ist Thomas‘ Wohnung unter dem Hamburger Fernsehturm, dem mit 280 Metern höchsten Gebäude Hamburgs. Die Wohnung dient mehr dem Rückzug, denn der Repräsentation. „Die Unvollständigkeit und Tristesse, die mir an meiner Wohnung am Sonntagabend aufgefallen war, relativierten sich durch Elises Gegenwart.“

Die Zeit nach dem Mauerfall wirbelt Thomas‘ mittelständisches Berufsleben durcheinander. Er wird in eine Senatskommission, die Ideen für künftige Stadtentwicklung Hamburgs entwerfen soll, berufen. Seine Berufung verdankt der gerade Dreißigjährige aber nicht seiner Expertise, sondern seinem alten Schulfreund aus Lüneburger Tagen und Kommilitonen, Claes Philip Osterkamp. Dieser soll der Kommission, die mehrfach im Rathaus tagt, als Protokollführer Ideen geben, leitet diese aber de facto. „Allein sein Auftritt stellte eine Beleuchtung meiner Defizite dar“, sinniert Thomas. Er erträgt die regelmäßigen Kommissionssitzungen im Hamburger Rathaus stoisch. Einem wesentlichen Beschluss der Kommission, den Autoverkehr in Hamburg zu reduzieren, stimmt er nur widerwillig zu. „Es ist Konsens in dieser Kommission, dass die Zeit der Autostadt vorbei ist.“ Eine seltsam vertraute Debatte, die bis heute nicht entschieden ist.

Zunehmend frustriert über seine Tätigkeit in einem mittelständischen Hamburger Architekturbüro nimmt Thomas die Stelle des Büro- und Kommunikationsleiters bei einem aufstrebenden internationalen Architektenbüro an, das unter anderem von seinem ehemaligen Kommilitonen Nader Serdani geführt wird. Thomas wird fortan keine Architektur mehr entwerfen, sondern vielmehr die Brücke zwischen Klienten und Architekten sein. Seine berufliche Existenz verbindet sich immer mehr mit den Begabungen und Karrieren seiner ehemaligen Kommilitonen und Freunde – und fußt immer weniger auf sein eigenes architektonisches Können. Dagegen bewundert er mit einem gewissen Schaudern Elises Künstlerleben, das immer wieder an den Rand des finanziellen Abgrunds gerät, aber auch Erfolge feiert. Sein Traum, ein anerkannter Architekt zu werden, ist mit Anfang Dreißig aber geplatzt.

Nach St. Louis und zurück?

Der dritte Teil des Romans spielt in St. Louis, in den Monaten nach den Anschlägen des 11. September. Elise nimmt an der dortigen Universität für ein Semester eine Gastprofessur an. Thomas lernt in St. Louis den deutschstämmigen Architektur-Professor Theodor Kuhn kennen, der ihm kurze Zeit später eine Professur für angewandte Architektur anbietet. Ihm nutzt dabei auch seine in den 1990er Jahren erschienene Schrift über den Neubau der Galerie der Gegenwart bzw. über dessen Architekten Niehuus, der 15 Jahre in St. Louis gelehrt hat. Da er seine berufliche Existenz als das Gegenteil einer Erfolgsgeschichte begreift, ist er über das Angebot verblüfft und geschmeichelt. Denn er hätte die Möglichkeit, Hamburg und seinem Job auf Dauer den Rücken zu kehren und mit vierzig Jahren einen Neuanfang zu wagen. Elise widersetzt sich Thomas‘ Plänen vehement, für sie ist St. Louis nur eine Episode und Hamburg ist ihre Geburtsstadt. Sie wirft Thomas vor, dass er nichts Neues beginnen, sondern in Wirklichkeit nur mit dem Alten brechen wolle. Letztendlich entscheidet sich Thomas für Elise und kehrt mit ihr nach Hamburg zurück.

Die Zitate entstammen: Ulf Erdmann Ziegler: Hamburger Hochbahn, 2009, Deutscher Taschenbuch Verlag

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